Agilität spielt bei immer mehr Unternehmen eine große Rolle. Wir haben mit Bettina Oebbeke über ihre Erfahrungen als Agile Coach gesprochen. Was verändert sich durch agile Arbeitsweisen? Hat agiles Management Auswirkungen auf die Unternehmenskultur und den Führungsstil? Wir freuen uns auf ein spannendes Interview!

Anne Weigand, communicode

Liebe Bettina, du arbeitest jetzt bereits seit 2013 als Coach und hast vorher als Abteilungsleiterin in einem Konzern mehrere eigene Teams geführt. Was macht für dich denn ein agiles Unternehmen aus?

Bettina Oebbeke

Ein agiles Unternehmen – wenn man wirklich von einem agilen Unternehmen und nicht nur von einer Abteilung spricht – richtet sich komplett auf den Kundennutzen aus. Das heißt, dass der Kunde ins Zentrum gerückt wird. Bei der klassischen Wasserfall-Methode wird lange entwickelt und am Ende ist das Feedback des Kunden oft verhalten. Bei der agilen Vorgehensweise wird der Kunde näher herangeholt. Da fragt sich das Team immer wieder: Sind wir noch on the track bei der Entwicklung? In klassischen Unternehmen gibt es eine hierarchische Struktur. Dieses Hierarchie-Dreieck wird bei agilen Unternehmen auf die Spitze gestellt: Die Entwickler haben plötzlich Kontakt mit dem Kunden und das Management gibt lediglich den Rahmen vor.

Anne Weigand, communicode

Welche Voraussetzungen müssen auf jeden Fall gegeben sein, damit sich ein Unternehmen auf Agilität einlässt?

Bettina Oebbeke

Das ist eine Kulturfrage! Ich stelle immer wieder fest, dass die Prozesse zwar auf agil umgestellt werden, aber die Firmenstruktur hierarchisch bleibt. Da werden Entscheidungen getroffen, die das Team nicht mitträgt. Ein agiles Mindset fördert aber die Entscheidungsfindung der Teams. Es muss also eine Kultur geschaffen werden, in der Fehler als Lernhinweise gesehen werden und das Gegenüber als erwachsener Mensch gesehen wird. Agilität stellt die Struktur von konventionellen Unternehmen in Frage: Feste Vorgaben und die Suche nach einem Schuldigen sind kontraproduktiv. Diese neue Selbstorganisation muss akzeptiert werden, auch wenn es nicht die Meinung des Managements ist. Außerdem benötigt Selbstorganisation seine Zeit. Natürlich passieren während dieser Entwicklung immer wieder Fehler, aber gerade dadurch kann sich eine neue Kultur der lernenden Organisation entwickeln. Ein wesentlicher Punkt ist, dass Unternehmen lernen müssen, mit der neuen Transparenz umzugehen: Es gibt keine Entwicklung im stillen Kämmerlein mehr, die ein halbes Jahr dauert und keiner gibt dazu Feedback. Plötzlich wird nach jedem Sprint Feedback eingeholt, das auch negativ sein kann. Mit diesem permanenten Feedbackprozess muss man umgehen können.

Anne Weigand, communicode

Warum muss ein Umdenken bezüglich des Führungsstils in den Unternehmen stattfinden? Welche Auswirkungen hat agiles Management auf die Führungskultur Und was muss sich am Führungsstil ändern?

Bettina Oebbeke

Das ist ein ganz entscheidender Faktor! Denn agiles Management bedeutet eine komplette Veränderung der Führungskultur. Weg von einer Führung nach dem Prinzip klarer Vorgaben hin zu einer Führung, die einen Rahmen schafft. Manager sind heute Coaches für ihre Mitarbeiter und das funktioniert nur auf Augenhöhe. Während die Aufgaben wie Controlling und Identifikation von Verbesserungen früher bei der Führungskraft lagen, sind sie jetzt auf das Team verteilt. Der Scrum Master räumt Impediments auf, der Product Owner kümmert sich um den Business Value, das Team ist für die Qualität verantwortlich. Das Management schafft lediglich den Rahmen, damit das Team arbeiten kann. Das Motto der neuen Führungskraft ist Empowerment: Ich gebe Macht ins Team und halte das auch aus. Allerdings unterscheide ich gern zwischen zwei Modi: Im Krisenmodus kann es durchaus hilfreich sein, dass einer die Führung übernimmt, um dem Team Sicherheit zu geben. Generell muss man aber sagen, dass es eigentlich keine agile Führung gibt, sondern nur gute oder schlechte Führung. Die sogenannte agile Führung ist eine positive Führungskultur mit erwachsenen Menschen. Die Menschen müssen Kreativität entfalten können, dafür wird aber eine Struktur benötigt, die der Manager schafft. Er hält seinen Mitarbeitern einen Spiegel vor: Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Bin ich noch mit den Unternehmenszielen d’accord? Seine Aufgabe ist es, alles aus einem Helikopterblick zu überschauen und Kurskorrekturen anzuregen. Mein Ansatz hierfür ist „Ask the team“: Die besten Lösungsansätze kommen immer aus dem Team selbst.

Anne Weigand, communicode

Wann entstehen deiner Erfahrung nach Probleme bei der Einführung von agilen Methoden?

Bettina Oebbeke

Eigenverantwortung und Selbstorganisation muss geübt werden, denn weder in der in der Schule noch an der Uni lernen die Leute, wie man sich selbst organisiert. Man muss das Team erst einmal heranführen. Wenn das Team dann eigene Ideen entwickelt, bekommt das Management aber oft Angst: Werden wir jetzt noch gebraucht? Scrum ist kein Allheilmittel, wenn ein klassisches Wasserfall-Projekt in Schieflage geraten ist. Denn Scrum macht die existierenden Probleme nur transparent, es gibt sie ja tatsächlich. Diese Transparenz wird oft nicht ausgehalten. Das Schlimmste ist der Irrglaube, dass Agilität bedeutet, dass man schneller wird. Agil zu arbeiten heißt nicht schneller zu sein, sondern es bedeutet, das richtige Produkt für den Kunden zu entwickeln. Hinzu kommt, dass Unternehmen weg von der Denke der Ressourcenauslastung müssen, hin zum Gedanken der Wertschöpfung. Bei crossfunktionalen Teams hat eben mal einer weniger zu tun als andere. Dafür kommen auch wieder andere Zeiten.

Anne Weigand, communicode

Du hast ja bereits beides erlebt: Kleine Agenturen und große Konzerne. Gibt es Unterschiede zwischen den beiden?

Bettina Oebbeke

Ja natürlich! In kleinen Agenturen sind die Strukturen flacher, die Entscheidungswege sind kürzer. Man hat viel schneller Kontakt zur Geschäftsführung und zu Entscheidern. Eine kleine Agentur hat auch ein ganz anderes Mindset. Salopp gesagt: Oft ist das ein Haufen kreativer Leute, die Ideen haben und diese verwirklichen möchten. Bei Konzernen – gerade bei solchen mit einer langen Geschichte – ist der Kulturwandel ein langer Weg und extrem schwierig. Wenn ich mit einen großen Monolithen zusammenarbeite, ist es viel schwerer agil zu sein. Eine Ausnahme sind große Firmen wie Google, Zalando oder Amazon. Sie sind im digitalen Zeitalter erst gegründet worden und klar auf den Kundennutzen ausgerichtet. Da werden gerne kleine Experimente gestartet wie beispielsweise die Produktbewertung damals bei Amazon. Die wurde nur für ein kleines Teilsortiment online gestellt und getestet, wie sie ankommt.

Anne Weigand, communicode

Wie werden deiner Erfahrung nach die Veränderungen von den Mitarbeitern aufgenommen?

Bettina Oebbeke

Ganz unterschiedlich. Die Generation Y fordert Agilität geradezu ein. Sie wollen selbstbestimmt arbeiten. Und verteidigen die Selbstorganisation. Mitarbeiter, die lange Zeit im klassischen Kontext gearbeitet haben, tun sich dagegen schwer: Sich transparent zu machen, wird als bedrohlich empfunden. Plötzlich sollen sie jeden Tag im Daily sagen, was sie geschafft und vielleicht auch nicht geschafft haben. Hier ist es wichtig, dass diesen Mitarbeitern die Sorgen genommen werden. Das Daily dient nicht zur Kontrolle und ist kein Statusbericht an den Vorgesetzten, sondern ein Planungsmeeting. Da gibt es keine Bestrafung für fehlerhaftes Arbeiten. Was viele auch unterschätzen, ist die die Disziplin, die agiles Arbeiten erfordert: Ja, man muss tatsächlich immer am gleichen Tag, zur gleichen Uhrzeit vorbereitet zum Meeting erscheinen. Und ja, der Entwickler präsentiert seine Ergebnisse nun auch direkt dem Kunden. Gerade dieser Punkt ist vielen Mitarbeitern unangenehm. Enger Kundenkontakt war vorher oftmals unüblich und muss deshalb geübt werden. Es gibt natürlich immer wieder einmal Mitarbeiter, die mit Agilität nicht zurechtkommen. Die verlassen dann das Team. Meiner Erfahrung nach nehmen aber die richtig guten Entwickler die agilen Methoden dankend an. Der Ansatz Scrum ist schließlich entwickelt worden, um Experten den Freiraum zu geben, kreativ zu arbeiten.

Anne Weigand, communicode

Wo kann ein Coach helfen und wie lange? Wirst du von manchen Unternehmen immer wieder um Rat gebeten?

Bettina Oebbeke

Ein agiler Coach sollte immer eingesetzt werden, wenn man mit agilen Methoden anfängt und keine Erfahrung hat. Er ist quasi ein Lotse, der weiß, wo die Untiefen sind. Er bringt die Erfahrung in die Teams rein und vermittelt natürlich auch grundsätzliches Fachwissen. Als Coach weiß ich aus Erfahrung, was funktioniert und was nicht und wo sich ein Neustart lohnt. Der Coach sollte generell auch bei den Gruppenprozessen dabei sein. Denn hier brechen oft Konflikte auf, die begleitet und geführt werden müssen. Außerdem begleitet ein Coach stürmische Phasen und dient dazu, immer wieder Standortbestimmung zurück zu spiegeln. Die Länge der Coachingphasen ist ganz unterschiedlich. Ich empfehle immer, mindestens die ersten drei Monate professionell begleiten zu lassen. Nur mal schnell ein Buch über agile Methoden zu lesen und diese dann im Team einzuführen, ist ein Klassiker, der aber nur schiefgehen kann. Es gibt Unternehmen, die rufen mich immer dann an, wenn es hakt und das ist auch gut so. Denn Coaching ist keine Schande, im Gegenteil. So verlaufen die Veränderungsprozesse viel sanfter.

Zur Person Bettina Oebbeke Bettina Oebbeke ist in der agilen Welt zuhause: Nachdem sie als Abteilungsleiterin bei einem Großkonzern Scrum eingeführt hatte und mehrere Teams führte, entschloss sie sich ihr vielfältiges Wissen als Coach weiterzugeben. Heute arbeitet sie als Agile Coach und Scrum Master freiberuflich für diverse Branchen.